Dr. Heinz Schilling • Professor f&uumlr Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main

|Lebenswelt|




U3L Universität des 3. Lebensalters an der Goethe-Universität Frankfurt

W a r t e n
IM MENSCHLICHEN LEBEN

Donnerstag 10 – 12 Uhr, Campus Bockenheim Neue Mensa Raum 125 ab 18. April 2019


Rêver, c'est le bonheur; attendre c'est la vie
Träumen, das ist das Glück – Warten ist das Leben
Victor Hugo, 1830



Warten

Victor Hugo ordnet in seinem wundervolle Satz das Warten dem Leben und seinen Realitäten, das Glück hingegen dem Reich der Träume zu. Man kann den Satz als eine Definition lesen, die nicht von einem zeittheoretischen Konzept, sondern von der Erfahrung der Lebenswelt aus gedacht ist.
Eine Sichtweise, die vielen Beispielen in diesem Seminar nahekommt.

Warte-Orte

Warte-Orte sind Räume, die einem einzigen Zweck dienen: Dass Menschen dort warten.

Mit Lebenswelt ist die von Menschen in ihrem je kulturellen Kontext als real erfahrene und aktiv gestaltbare Welt gemeint, wie sie sich im ganz normalen Alltag entfaltet. In seiner Handhabung und Bedeutungen für jeden von uns ganz persönlich. Allerdings: Zur Routine des Alltags gehören tagtäglich die Ausnahmen. Beispielsweise die erzwungene Hemmung unserer leistungsorientierten Betriebsamkeit und auch die Erwartung, dass die Zumutungen an unsere Duldsamkeit nicht mehr als üblich strapaziert werden und es nach einer Warteweile weitergeht.

Unser Seminar „Warten im menschlichen Leben“ widmet sich nicht nur Warte-Standards à la Stau, überfüllte Wartezimmer oder wieder mal die langsamste Schlange vor Kasse Nummer 5 erwischt. Wir werden versuchen, in ein Phänomen einzudringen, das keinen allzu guten Ruf hat. Nicht wenigen gilt das Warten als lästig, nervig, überflüssig.
„Beim Reisen schnell ankommen, beim Doktor schnell drankommen“, scheint das Ideal eines wartefreien Lebens.
Doch die Ruhe des Wartens, die Pause schöpferisch genießen? Warten auch als Zeit zum Atemholen, zum Abschalten und Auftanken, als Einladung, gar als Aufforderung zur Regeneration insgesamt betrachten?
Mit etwas Glück und unter günstigen Umständen gelingt das gelegentlich in unseren Tagen der heftig angesagten „Entschleunigungs“-Welle.


Warten und Risiko: Schicksalhafte Wendungen

Was hat es mit dem Warten auf sich hat – oder haben kann – werden wir in einem Gesamtrahmen Kultur betrachten. Das Interesse richtet sich anfangs auf Situationen und Orte, wie sie als sprichwörtlich für das Alltagswarten gelten. Doch es wird nicht nur um ein Warten das Typs „Nicht-mehr – Noch-nicht-wieder“ gehen, also um die Fortsetzung eines nur eben mal kurz ausgesetzten Zeitverlaufs.
Es gibt das zyklische Warten auf wiederkehrende Anlässe, die uns durchs Leben begleiten, etwa vier erwartungsvolle Wochen der Kindheit mit Adventskalender oder Herrnhuter Sternen.

Warten-Schwangerschaft
Ultraschallaufnahmen „etappisieren“ das Warten während einer Schwangerschaft. Mit besonderer Ungeduld wird die erste – von normalerweise drei – Sonografien erwartet.

Betrachten wir ein Warten auf Zukünftiges, was noch nicht geschah, dann stoßen wir auf Bedürfnisse, Wünsche und Sehnsucht, die, wenn sie reales Erwarten hervorbringen, durchaus auch Ungewissheit und Zweifel bedeuten können, die in Befürchtungen und Enttäuschung umschlagen. Unseren Blick weiten sollen also Beispiele für lebensrelevantes Warten (in der Bedeutungsbreite von schicksalhaft bis lebensentscheidend). Stichworte hierfür sind etwa Warten auf die Geburt eines Kindes oder eine Adoption; Warten auf Heilung oder Organtransplantation. Warten auf Wohnung und Warten auf Arbeit.


Wehmut

Warten „nach rückwärts“ – gibt es das? Vor einigen Jahren habe ich dieses Bild in einer Ausstellung gesehen. Es geht mir seitdem nicht aus dem Sinn.

Nele Van Canneyt
Mit freundlicher Genehmigung der Fotografin (c) Nele van Canney, Zeebrugge series, Bruges

Ein Bild, das mir eine Geschichte erzählt. Ein Aussichtspunkt am Oomkaai von Seebrügge. Mittag. Ein Mann, vielleicht 60, in Jeans und Synthetikjacke. Jahrhundertelang sind am Hafen von hier die Fischerboote ausgelaufen.
Zwischen sich und den aufragenden Kränen im Hintergrund hat der Mann den Schatten des „Visserskruis“, des Denkmals für die auf See umgekommenen Fischer.
Ein Zug von Desillusionierung, Trauer in dem altgewordenen Gesicht. Der Mann könnte an Kollegen denken, an Freunde, an die das Kreuz auch erinnert. War er selbst Fischer, unlängst noch, die Fischerei verdrängt vom blühenden Containerhafen?
Ein alter Mann am Visserskruis von Zeebrugge.
Worauf wartet er?
Auf wen wartet er?


Lebenslanges Warten

Breiten Raum einnehmen soll das Thema lebenslanges Warten mit aussagekräftigem Material und Falldarstellungen aus meiner eigenen empirischen Forschung u.a. über ein „verwartetes Leben … 50 Jahre auf gepackten Koffern“.

Warten-Leben
Während meines Interviews mit dem wolgadeutschen Spätaussiedler Viktor Kral erzählt dieser die Geschichte seiner Familie, die 1764 nach Russland auswanderte. Zugleich zeichnet er eine Landkarte seines eigenen kleinen Lebens voller Drangsal inmitten der großen Weltgeschichte.

Intensiv beschäftigt habe ich mich auch mit dem Briefwechsel des nach einer von hohen Pariser Militärkreisen eingefädelten Anklage wegen Hochverrats zu lebenslanger Verbannung auf eine Insel verurteilten Alfred Dreyfus und seiner Frau Lucie. Hoffnung und Zuversicht gibt dem Paar ein regelrechter Warte-Pakt miteinander in einer ausweglosen Situation. Die Rettung kommt nach vier Jahren mit der aufsehenerregenden Intervention des Schriftstellers Émile Zola, dem berühmtgewordenen Offenen Brief in der Tageszeitung „L'Aurore“ am 13. Januar 1898. 1906 erfolgte Dreyfus' Rehabilitierung.

Warten-Dreyfus Links: Alfred Dreyfus, rechts Lucie Dreyfus. Aufnahmen aus den frühen 1890er Jahren. Mitte: Die Hütte von Dreyfus auf der Teufelsinsel (Französisch Guyana; Schauplatz auch mehrerer Romane und Filme, u.a. Papillon.

Warten als literarisches Motiv...

„Geschichten erschaffen die Welt, die wir wahrnehmen“, schreibt Margaret Atwood einmal. Und im Sinne Balzacs könnte man sagen: Geschichten ermöglichen auf eine besondere Weise fundamentale Einblicke in die Existenz des Menschen. Aus der erzählenden Literatur möchte ich auf Bücher verweisen, von denen Sie heute zumindest einen Titel kennen, am Semesterende einige mehr: Gabriel García Márquez (Liebe in Zeiten der Cholera), Franz Kafka (Vor dem Gesetz [die „Türhüter-Parabel“] , Manès Sperber (Die Wasserträger Gottes) und Samuel Beckett (Warten auf Godot). Doch nicht nur über Warte-Beispiele aus der Weltliteratur werden wir sprechen, sondern auch über Johann Peter Hebels kurze Erzählung aus dem Jahr 1811, die danach auch ihren Weg in die Lesebücher fand. Sie heißt Unverhofftes Wiedersehen. Für den Philosophen Ernst Bloch „die schönste Geschichte der Welt“.


… und als Gegenstand empirischer Forschung

Eine Landkarte der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen – die Studie des amerikanischen Psychologen Robert Levine über seine Feldforschungen in 31 Ländern all around the world erschien 1997 und wurde binnen Kurzem ein Bestseller. Das Thema Warten hat darin natürlich einen starken Auftritt. Im Seminar herausgreifen sollten wir, so Zeit dazu bleibt, Levines Erkenntnisse bezüglich Wartenlassen als Attitüde von Macht und Status.
Die Forschungsdokumentation von 14 Studierenden der Goethe-Uni heißt „Welche Farbe hat die Zeit? Recherchen zu einer Anthropologie des Wartens“ ist das Ergebnis eines zweijährigen Projekts unter meiner Leitung. Das Buch mit 400 Seiten war - nachdem es auf der Frankfurter Buchmesse präsentiert, von der Zeitschrift „Psychologie heute“ gelobt und vom „Spiegel“ entdeckt worden war - kurz nach Erscheinen restlos vergriffen.


Warten – mehr als Feuilleton

Aus besonderem Grund verweise ich hier auf eine recht frische Neuerscheinung (2018) mit dem irgendwie anheimelnden Titel Vom Warten mit vielen kurzen Texten heutiger Autoren. Mal verblüffend spaßig-originell, mal zum Nachdenken anregende Lektüre.

Warten-BuchMarix

Testergebnis: Bewahrt vor Langeweile beim Wartenmüssen.
Der besondere Grund: Der Herausgeber Stefan Geyer wird zum Abschluss des Semesters am 18. Juni unser Seminargast sein.



In einem Seminar zum Thema Warten sollten wir also nicht von einer strengen Zeit-These ausgehen, sondern von einer milden Arbeitsdefinition: Gemeinsam werden wir einige explorative Gänge unternehmen auf der Suche nach Praxis und Bedeutung eines so gut wie unbefragten, meist hingenommenen Alltagsphänomens mit einer diffusen – also facettenreichen – Bedeutungsaura aus Sachzwang und Schicksal. In das semantische Warten-Feld gehören Begriffe wie Pause, Zwang, Wiederholung, Aufschub, Langeweile, Ungewissheit, Geduld, Angst, Furcht, Friedberger, Silbernes Nixchen, Eile mit Weile. Hoffnung. Erdulden, genießen. Gestohlene Zeit, geschenkte Zeit, sich Zeit nehmen, Zeit haben, vertreiben, totschlagen. Macht, Wollen/Müssen, Status. Reifen lassen, Tee trinken. Prinz Charles, Warten auf den Anfang von etwas, auf das Ende von etwas. Auf Glück. Auf den dicken Fisch. Abfahrt. Ankunft. Und

das Warten auf den rechten Augenblick:

Warten-AugenblickKendo-Europameisterschaft Bern.Foto © Harald Hofer/Wikimedia

Die derzeit angesagte „Entschleunigung“ als reflektierte Tempo-Verzögerung bestimmter Lebensbereiche setzt als Anti-Hektik-Konzept durchaus auf ein reflektiertes oder auch kalkuliertes Warten.
Das Seminar wird als Vortrag plus Diskussion gestaltet. Referate zu einigen Stichworten sind möglich und auch erwünscht. Eine detaillierte Seminarplanung mit ausführlicher Literatur liegt in der ersten Sitzung am 18. April vor.
Themenvorschläge bitte bald an h.schilling@em.uni-frankfurt.de.


Hinweise

Sehr empfehlen möchte ich den informativen Katalog einer Ausstellung des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Freiburg zusammen mit dem Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Uni Tübingen:
http://www.alltagskultur.info/wp-content/uploads/2017/07/WarteArt-Beoachtungen-in-einer-zeitlichen-Zwischenphase.pdf
Spannend mitzuverfolgen ist das einstündige Gespräch zwischen dem Soziologen Hartmut Rosa und dem Literaturwissenschaftler Rüdiger Safranski über Zeit, was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen: https://www.youtube.com/watch?v=wk7k4hsE7ho
Beachten Sie bitte:
Das Buch Welche Farbe hat die Zeit? Recherchen zu einer Anthropologie des Wartens
ist vergriffen. In der Frankfurter Unibibliothek sind 4 Exemplare entleihbar (> OPAC). Die Deutsche Nationalbibliothek in Frankfurt hält das Buch für den Lesesaal bereit. Antiquarisch sind aktuell 3 Exemplare – allerdings zu Mondpreisen – auf dem Markt (s. ZVAB und booklooker).

Bildnachweise

Tokyo Subway | © Walter Stork
Verkehrsampel | © Foto Heinz Schilling (*)
Hinweisschild Sparkasse | (*)
Im Wartezimmer | (*)
Vor der Sprechstunde | (**) = Forschungsarchiv Heinz Schilling, Titel: Vor dem Auskunftsschalter
Warten auf die Sechs | (*)
Titelseite L’Aurore vom 13. Januar 1898. Offener Brief Émile Zolas an den Präsidenten der Französischen Republik. Er führte zum Abbruch der lebenslangen Verbannung von Alfred Dreyfus auf die Teufelsinsel. | Wikimedia, public domain
In Erwartung des Vorstellungsgesprächs. Hallway ING Building, Amsterdam | © Foto Eveline de Boer
Airport Lounge Dubai | © Foto Ralf Roletschek mit freundl. Genehmigung des Autors
Embryo, Ultraschallaufnahme | (**)
Zeebrügge | © Foto Nele van Canneyt. Mit Dank an die Fotografin Mental Map Viktor Kral | (**)
Thema Alfred Dreyfus:
Dreyfus Hütte auf der Teufelsinsel | © Philipp Weigell / Wikidata
Familienfoto: Lucie Dreyfus und ihre Familie. Links die 1893 geborene Tochter Jeanne, hinter ihr ihr Ehemann Alfred Dreyfus und rechts der 1891 geborene Sohn Pierre. | © Bibliothèque historique de la ville de Paris BHVP
Kendokämpfer | (c) Foto Harald Hofer, Wikimedia